Mit Geschichten lenken: Die Arbeit mit dem Model

Jeder noch so kurze Moment erzählt eine Geschichte; auch wenn er nur 1/100 Sekunde dauert. Nur, wie erzählt er die richtige?

Als Porträtphotograph sieht man sich einer der schwierigsten Aufgaben gegenübergestellt: Nämlich den Gegenüber genau das fühlen zu lassen, was man will. Denn nur, wenn das Model Freude, Neugier, Geborgenheit, oder auch Macht, Wut, … fühlt, kann es das auch ausdrücken. Und nur dann wird der Betrachter des Bildes schließlich in das Bild hinein gezogen werden.

Porträt-Photographie-Sam-Feature- Porträt-Photographie-Sabin-1

Nimm, z.B., diese beiden Bilder aus der Serie embedded (in) nature: Beide drücken eine ganz eigene Emotionalität aus. Das passiert nicht einfach so. Es genügt auch nicht, dem Model zu sagen: „Schau neugierig!“ oder „Sei wütend!“ oder – wie das in America’s Next Top Model so gerne gemacht wird – „Gimme sexy! C’mon, more sexy!“ Nicht nur ist das viel zu unpräzise, es ist auch uninteressant. Wenn man mich fragen würde, welches emotionales Schlagwort ich Sam geben müsste, damit sie den Gesichtsausdruck des linken Bildes an den Tag legt – ich könnte noch so lange nachdenken und in Wörterbüchern nachschlagen, sagen könnte ich es doch nicht. Sabin, im Bild rechts, hätte ich vielleicht noch das Schlagwort „wütend“ hinwerfen können – aber hätte sie denn gewusst, was ich damit meine? Wütend worauf? Auf wen? Wie sehr? Und selbst wenn das alles geklärt wäre: Wie schau‘ ich überhaupt wütend?!

Zum Glück musste ich Sabin im rechten Bild nicht erst wütend auf mich machen, damit sie mit dieser Intensität in die Kamera blickte! In beiden Fällen hatte ich bereits vor dem Photo-Shoot eine kurze Geschichte vorbereitet. Sams Geschichte zum Beispiel ging in etwa so:

You know A Midsummer Night’s Dream, right? Cool, then I’m sure you know Puck, the Robin Goodfellow, how he’s always up to no good, and plays pranks on people, and fairies, getting on everyone’s nerves. And you know about Titania and her fairies in the magic woods, right? I want you to imagine, you’re one of those fairies, and you’re sleeping in this hedge – peacefully…And suddenly you are woken up by a strange noise – it’s Puck, of course, but you cannot see him. And you rise up and look around to see what’s going on. And you’re a bit pissed ‚cause Puck is roaming around Titania’s lands again, but you’re also kinda curious what he’s up to this time, because he actually can be quite a funny guy – if he’s not throwing stolen eggs at you, or something….So that’s the situation right now.

Ich musste keine Minute lang erzählen und Sam wusste genau, was ich von ihr wollte. Und anstatt über einen abstrakten Begriff wie „Neugierde“ nachzudenken, hatte sie etwas ganz konkretes zu tun: Nämlich Puck zu suchen und ihn zu schelten – oder doch vielleicht mit ihm zu flirten und im Busch zu verschwinden? (Hier sieht man übrigens einige emotionale Variationen, die in dem Shoot entstanden sind.) Und über diese Suche und meine Anweisungen schien Sam völlig zu vergessen, dass eine Kamera auf sie gerichtet war.

Porträt-Photographie Sam 2

Und selbst als ich ihr die Anweisung gab „and now, look right into the camera! yes, straight on!“ behielt sie ihre Rolle bei und etwas wunderbares passierte: Denn wie Samantha aufblickte, hatte sie sich plötzlich tatsächlich in eine märchenhafte Fee verwandelt und trug jenen völlig unerklärlichen Ausdruck zwischen Freude, Neugierde, Ärger, und Verletzlichkeit, den kein Wort jemals einfangen könnte.

Ich weiß nicht, welche Geschichte das Bild erzählt. Ich weiß wohl, dass niemand an A Midsummer Night’s Dream denken wird – aber das tut nichts zur Sache. Wenn es mir darum gegangen wäre, Shakespeares philosophische Komödie zu erzählen, hätte ich sie niedergeschrieben, oder vielleicht einen Film daraus gemacht. Nein, das Ziel meiner apokryphen Shakespeare-Erzählung war es ja, meine Gefühle für das Model verständlich und operativ zu machen – und damit dem Betrachter zugänglich. Und ich weiß, dass jene Geschichte (zusammen mit Lebenserfahrung des Models, Lichttechnik, Kamera-Einstellungen, Setting, spezifischen Interventionen und Anleitungen, Post-Production) ein Bild produziert hat, dass den Betrachter direkt anspricht und ihn an jenem Moment, jenem Mikro-Narrativ, teilhaben lässt.

Dieser Artikel ist der erste Teil einer zweiteiligen Serie zum Storytelling in der Porträt-Photographie. Der zweite Artikel, über die Geschichten, die Portät-Photographien ihren Betrachtern erzählen und warum das so wichtig ist, erscheint in 2 Wochen auf phoxography.net.

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Comments

Eine Antwort zu „Mit Geschichten lenken: Die Arbeit mit dem Model”.

  1. Avatar von Sunset Fashion with New Yorker | phoxography

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